die welt sollte zunächst so bleiben, wie sie ist @ Kunsthalle Mainz

6. Juni – 24. August 2008

Fahrradkuriere
Lukas Einsele: Fahrradkuriere Kabul / Afghanistan, 11.11.2001 Foto: Lukas Einsele / Andreas Zierhut

die welt sollte zunächst so bleiben, wie sie ist

6. Juni – 24. August 2008 
Eröffnung 6. Juni 2008, 19 Uhr

Lukas Einsele
 – Thomas Erdelmeier – 
Thomas Kilpper
Die hier versammelten Künstler prägt ein gesellschaftspolitisches Bewusstsein, das auf unterschiedliche Weise in ihren künstlerischen Arbeiten und Projekten Niederschlag findet. Der Schaffensprozess wird zur steten Auseinandersetzung mit Herkunft und Zusammenhängen des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems sowie mit der Frage, welche Rolle dem Individuum hierbei zukommen kann bzw. zugeteilt wird. Wo finden sich Handlungsspielräume, um Gesellschaft, Politik und Staat (mit)zugestalten. An welchen Stellen hört die zivilisatorische Realität auf, zivil zu sein? In welchem Maße konstruieren Herkunft, Gesellschaft und Ökonomie das einzelne Subjekt und bedingen unsere Kommunikationsformen. Mit sehr verschiedenen Mitteln deuten Lukas Einsele, Thomas Erdelmeier und Thomas Kilpper die Widersprüche einer in vielen Bereichen auf Übersichtlichkeit, Überregulierung und auch paradoxen Moral drängenden Gesellschaftsordnung an. Gesellschaftliche Wirklichkeit wird zum Fundus, von dem aus augenfällige Fragen verhandelt werden und aus dem sich ebenso kritisch wie lustvoll schöpfen lässt. Insofern ließe sich der Titel der Ausstellung „Die Welt sollte zunächst so bleiben, wie sie ist“ genauso als Frage formulieren oder auch als Umkehrung.

Fehim Merdar (Sarajevo, Bosnien, 04.09.2003); Phanna Ou, (Phnom Penh, Kambodscha, 18.02.2004); Abdul Aziz (Jalalabad, Afghanistan, 27.10.2002) „One Step Beyond“ / Lukas Einsele

Lukas Einsele (geboren 1963, lebt in Darmstadt) zeigt in der Ausstellung neben einer neuen Arbeit sein Projekt „One step beyond – Wiederbegegnung mit der Mine“ (OSB). Es berichtet auf verschiedenen Ebenen über Opfer von Landminen und bringt Opfer und Mine in ein sichtbares Verhältnis: Lukas Einsele reiste in stark verminte Länder wie Angola, Afghanistan oder Bosnien-Herzegowina und bat Menschen, die von einer Landmine verwundet wurden, sich an den Hergang des Unglücks zu erinnern und ihm davon zu erzählen. Im Anschluss fertigte Einsele Schwarzweiß-Porträts der Erzählenden mit einer Großbildkamera. Mit Hilfe der Berichte sowie weiterer Recherchen zu Militär- und Minenkarten und Minenräumungen, konnte er Rückschlüsse auf den möglichen Minentyp schließen, der den „Unfall“ verursachte. Während der Aufenthalte griff Lukas Einsele weitere Themen fotografisch auf, die um den vielschichtigen wie monströsen Komplex kreisen: Minenräumungen, Minenaufklärung, Rehabilitation. Ausgangspunkt und zentraler Aspekt dieses Projekts ist das Erinnern als aktiver, Bilder generierender Prozess. Für die zahlreichen Institutionen im In- und Ausland, in denen OSB seit 2001 gezeigt wurde, erarbeitet Lukas Einsele auf den jeweiligen Ausstellungsort abgestimmte Präsentationsformen, die sich stets zu einem subtilen und ebenso eindringlichen Bild über dieses dunkle Kapitel fügen. In der Kunsthalle Mainz entsteht ein kleiner Raum im Raum, der jenem Grundriss entspricht, an dem „One step beyond“ erstmals zu sehen war. Der nachgebildete Raum sowie eine Auswahl der Schwarzweiß-Porträts der Erzählenden korrespondiert mit einer neuen Videoarbeit des Künstlers, in der vier Musiker ein klassisches Musikstück memorieren. Der Betrachter wohnt hier einer stillen und zugleich höchst aufgeladenen Aufführung ohne Instrumente bei.

Ausflug
Thomas Erdelmeier Ausflug, 1999

Die Zeichnungen, die Malerei und die architekturartigen Modelle von Thomas Erdelmeier (geboren 1969, lebt in Frankfurt/Main) sind geprägt von einem ausgesprochenen Gespür für Räumlichkeit. Die Plastizität, die extremen Perspektiven und die stürzenden Fluchtlinien erscheinen wie der Reflex auf eine immer flacher werdende Bildschirmwahrnehmung und zugleich als Spiegel eines immer komplexer werdenden Gesellschaftssystems, in dem das Subjekt seinen Platz zu finden und Nachteile zu vermeiden versucht. Die oft wandgroßen Zeichnungen, einige von ihnen als Sprach- und Texträume angelegt, verschmelzen unterschiedliche zeichnerische Sprachen und Erzählstile. Viele verschiedene Elemente und Aussagen sind wie bei einem Gespinst miteinander verwoben und lassen Momente von Pessimismus wie auch der Zuversicht gleichermaßen aufblitzen. In der Ausstellung ist eine Auswahl von neuen, seit 2007 entstandenen Malereien zu sehen. Sie verlassen weitgehend die Textebene, aber nicht das vielschichtige Erzählen. Auch in den Malereien kommt der virtuose, stets aus dem Vollen schöpfende Zeichner zum Tragen. Die Bilddynamik bildet immer auch ein energetisches Feld, in dem sich der Künstler kritisch konstatierend und gleichsam lustvoll der ihn umtreibenden Fragen annimmt. Gelingende und ausnutzerische Formen menschlicher Kommunikation, die Frage nach Teilhabe an Privilegien sowie Überlegungen zur religiösen Herkunft unseres heutigen Wirtschaftsystems und die daraus resultierenden Subjektkonstruktionen sind wiederkehrende Themen.

o.T
Thomas Kilpper ohne Titel (Nest), 2008

Die oft monumentalen und äußerst aufwändigen Projekte von Thomas Kilpper (geboren 1956, lebt in Berlin) haben meist zwei Ausgangspunkte. Ausgehend von biografischen Stationen schwingt im künstlerischen Schaffen von Thomas Kilpper stets die bisweilen direkte Auseinandersetzung mit politischen Gegebenheiten mit. Der konkrete Wunsch und das Bestehen auf Gestaltung und Mitbestimmung sowie auf dem Verändern von Missverhältnissen der Gesellschaft bilden das Themenspektrum des Künstlers. Hierbei stehen Überlegungen im Raum, inwieweit soziale oder politische Fragen im Rahmen von Kunst verhandelbar sind. Dass es gelingen kann, zeigt z. B. das Projekt „Drowning Hercules“ (2001): In einem ausgedienten Schwimmbecken schuf der Künstler aus sämtlichen Holzteilen, die er im übrigen Gebäude herausschlagen konnte (Einbauschränke, Türen etc.), einen zehn Meter hohen Baum. Dieser wurde zerstört mit dem Abriss des Gebäudes. Für kurze Zeit besetzte Thomas Kilpper den Ort, eignete ihn sich an und führte die zerstörten Holzteile als skulpturales Bild in ihren Ursprung als Baum zurück. Das Besetzen von Orten und der Umgang mit ihrer Geschichte ist ein weiterer wesentlicher Aspekt in Kilppers Arbeiten. Für die Kunsthalle Mainz entsteht eine raumgreifende Installation aus etwa 20 Zeichnungen, die als eine Art Parcours mit dem Gesicht nach unten über dem Boden schweben und so die Betrachtung buchstäblich auf den Kopf stellen. Die Zeichnungen sind als biografische Zeitreise angelegt, die zugleich prägende gesellschaftspolitische Ereignisse vergegenwärtigt. Eine weitere Installation, bestehend aus einer hinfälligen und zugleich Raum einnehmenden Wand, spielt mit der Dekonstruktion der Eleganz des eigentlichen Ausstellungsraumes und seiner auf konzentrierte Kunstbetrachtung ausgerichteten Architektur.